Ruth Schweikert *1964

Interview mit Ruth Schweikert vom 6. Dezember 2019
von Werner Rohner

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Werner Rohner: Beginn doch mal damit zu erzählen, wie und wo und warum Du zu schreiben begonnen hast.

Ruth Schweikert: Man beginnt ja meistens, oder häufig, erst im Kopf zu schreiben, bevor man dann wirklich schreibt. Und ich glaube, das war bei mir auch so. Es gab dieses Schreiben als Idee, auch die Schriftstellerexistenz – die ich mir natürlich romantischer ausgemalt habe – mit den ersten Leseerfahrungen. Das waren zum Teil ganz altersgemässe Internatsromane, oder was auch immer mich da beschäftigt hat. Dort schon die Idee einer alternativen Welt, oder einer imaginierten Welt zumindest, die einem in diesen Internatsromanen vorgeführt wird. Vielleicht war das dort auch wichtig – aber das denk ich erst jetzt – dass dort oft Mädchen im Zentrum standen.

Das ist natürlich etwas, das mich später sehr beschäftigt hat, als ich ernsthaft zu schreiben begonnen hab. Beziehungsweise nicht nur zu schreiben begonnen, sondern mich damit auseinanderzusetzen, was bedeutet das eigentlich für eine Existenz? Was macht das mit einem? Welche Wirkung haben Worte, Bücher, Texte, auf einen selbst? Was bedeutet das, etwas mitzuteilen? Welche Wege geht man? Wie kommt man zu seinem Stoff, bzw. wie kommt der Stoff zu einem? Also dieser ganze Transfer, diese Arbeit an dieser Form auch, an der Sprache. Was bedeutet das und warum lese ich vor allem männliche Autoren?

Damals, als ich Literatur zu lesen begonnen habe, ja, gab es in meiner Wahrnehmung die Autorinnen, die mich interessiert haben: Ingeborg Bachmann zuallererst, Marieluise Fleißer, Silvia Plath, Virginia Woolf hatten das, was man ein tragisches Leben, zumindest auch, nennen könnte. Zumindest sind sie vor der Zeit gestorben. Sie haben sich das Leben genommen, oder sind früh tödlich verunfallt unter mysteriösen Umständen. Oder sie haben wie Marieluise Fleißer jahrzehntelang nicht geschrieben. Ja, und es hat mich beschäftigt, das Bild von Walter Benjamin: der Autor als männlicher Erstgeborener seines eigenes Werks, quasi das Buch, das ihn zur Welt bringt. Und eben dadurch wird er seine Existenz nicht mehr, ich sag jetzt mal, der weiblich konnotierten Natur, sondern seiner eigenen kulturellen Leistung zu verdanken haben. Also diese zweite Geburt in der Kultur.

Also das sind sicherlich Fragen und Motive, die mich sehr beschäftig haben, als junge Autorin. Als Leserin. Also ich bin ganz klar übers Lesen zum Schreiben gekommen und über die Faszination. Also wie ein einzelnes Wort, oder ein Satz, wie der nachhallen kann, was da hängen bleibt. Was natürlich zu tun hat mit der Form, und damit, dass es auch hier einen Transfer gibt vom Sprachklang in diese Bedeutungsvielfalt in der sogenannten Realität. Also dieser Wörter, die um sich herum ein Feld eröffnen, das ja bekanntlich für jeden wieder ein eigenes ist. Also, was ist eigentlich Lesen, was heißt andere teilhaben zu lassen. Teilzuhaben an den Bildern, die andere Autorinnen und Autoren geschaffen haben. Und dann hab ich angefangen zu schreiben.

Werner Rohner: War das ein bewusster Prozess, oder…?

Ruth Schweikert: Die Idee, dass ich Schriftstellerin werde, war sicher da, als ich so acht, neun Jahre alt war.

Werner Rohner: Ohne dass Du schon was geschrieben hättest?

Ruth Schweikert: Ja. Aber es verleidete mir dann schnell, so einen Internatsroman zu schreiben, aber damit hab ich mal angefangen – aber was für mich sehr wichtig war, das war das Aufsatzschreiben in der Schule. Und da gab´s auch so einen Moment, da war ich elf, und wir mussten eine Reportage schreiben, also rausgehen, in die Welt gehen, und mein Vorschlag war – also ich hab nichts besonders Originelles genommen – der Bahnhof in Aarau, mit all diesen Gesprächen, mit dem Stellwerkleiter, und so weiter. Und da hat mich der Prozess zu interessieren begonnen. Wie wird jetzt aus all diesen Notizen ein Text? Wie viel muss ich weglassen? Was passiert da eigentlich in dieser Umformung und dieser Gestaltung. Und was lässt man weg? Und ist das auch unfair? Wie trifft man diese Auswahl? Was ist da die Behauptung?

Und ich weiß noch, ich habe elf Seiten geschrieben – und Teil meines Aufsatzes waren auch diese Notate. Die waren da integriert, mit genau dieser Fragestellung. Was geschieht, wenn ich mir Stichworte notiere und nachher daraus einen „wohlgeformten“ Satz baue.

Werner Rohner: Und wann oder wie ging es dann weiter zum nicht schulischen Schreiben? Hast Du Dich da auch schon hingesetzt?

Ruth Schweikert: Das kam später. Ich hab dann mal ein Tagebuch begonnen, aber da war ich sicher schon vierzehn. Das hab ich eine Zeitlang intensiv geführt. Ich weiß noch, der erste Eintrag ging eben über ein Bild von Cezanne, auf das wir im Zeichenunterricht hingewiesen wurde. Das hat mich elektrisiert. Und bei der Literatur kann ich es eigentlich auch ziemlich genau benennen, es war Pole Poppenspäler von Theodor Storm, eine Erzählung. Und das hat mich unglaublich interessiert. Das hat mich wirklich elektrisiert. Wie kann man so etwas gestalten? Das ist eine Rahmengeschichte: Das ist ein alter Mann, der quasi einem jungen Besucher die eigene Liebesgeschichte erzählt. Und das ist eine ungewöhnliche Geschichte, weil er hat sich verliebt in die Tochter eines reisenden Puppenspielers, und das waren Exoten und es ging natürlich nicht ohne Irrungen und Wirrungen ab, aber sie wurden dann tatsächlich ein Paar. Und deshalb hieß er Pole Poppenspäler, weil er sich eben mit dieser Puppenspielertochter quasi zusammengetan hat.

Werner Rohner: Hast Du das auch beschrieben im Tagebuch, oder nur Deine Gedanken dazu notiert?

Ruth Schweikert: Es war sicher nicht als Text gedacht, der quasi für andere auch hätte einsehbar sein können. Ja, und dann gab es – also ich hab immer gesagt, ich hab nie Gedichte geschrieben, aber es gab schon so Gedichtartiges. Das heißt einfach so Kurzprosatexte würde ich das nennen. Inspiriert von bestimmten Erlebnissen und Erfahrungen.

Und dann, die Idee vom Schriftstellerinwerden hat mich nicht verlassen, aber dann gab´s diese Hofmannsthalsche Krise: Dieses Gefühl, alles ist schon gesagt, alles ist schon so toll beschrieben worden, mich braucht´s da nicht auch noch. Das war wohl auch mit ein Grund, warum ich dann diese Schauspielschule gemacht habe und mich wie auf andere Weise mit Sprache beschäftigt habe. Nämlich, indem ich sie gesprochen habe, indem ich Figuren verkörpert habe. Sicher war da Kleist sehr wichtig: Penthesilea. Aber auch andere Stücke. Und ich hab ja immer meine Texte im Ohr. Die Klanglichkeit ist mir enorm wichtig.

Werner Rohner: Und was ist dann passiert, dass Du dann doch zum Schreiben zurückgefunden hast? Dass Du gedacht hast, Deine Stimme braucht es doch?

Ruth Schweikert: Es gab dann schon während der Schauspielschule ein paar anfallsartig notierte Texte. Und dann gab es da wieder eine Art Initialzündung. Ich hab „Die Tessinerin“ gelesen, von Thomas Hürlimann. Da gibt es eine Erzählung, da wird ein Fräulein beschrieben im Zug. Und daraus ist eigentlich meine erste Erzählung geworden: „Port Bou“. Da geht es eben um eine Frau, die ungeküsst drei Kinder hatte, als quasi diese Fräuleingeschichte. Da war es eben auch wieder diese, seine Sprache. Das hat mich wie elektrisiert. Und dann war es wie da. Und ich hatte in dieser Zeit immer einem Freund alle meine Texte zum Lesen gegeben. Und dann hab ich ihm das zu lesen gegeben. Und dann hat er gesagt: Ja! Jetzt ist es da. Voilà.

Und dann hab ich gesehen, es gibt das Kuratorium Aargau, man kann einreichen. Man kann Förderbeiträge bekommen. Weil, ich hatte ja schon zwei Kinder, ich lebte ziemlich prekär und ich musste mir das ziemlich abringen auch, die Zeit, die Energie. Ich weiß noch, einmal – wir waren in der Kantonsschule schon bei Claudia Storz –, da gab es so ein Projekt: Begegnungen mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, welche die Kantonsschule Aarau besucht haben. Und Claudia Storz hab ich eben erzählt, mein erstes Buch würde dann heißen: Die Haut der Erinnerung. So ein bisschen nach Balzac natürlich. Und sie hat mich dann nochmals empfangen. Insofern war sie, die Bücher schreibt, schon sehr wichtig. Dass man Menschen begegnet, die wirklich das machen, und man sieht: Aha, die existieren, die leben. Und ich weiß noch, dann hat diese eine Tochter mal David und Raphael gehütet, an einem Sonntag oder Samstagnacht sogar. Und in der Zeit hab ich meine erste fertige Erzählung geschrieben. Das war: Rolf. Ich wusste genau, das muss jetzt sein, und ich hab wirklich die ganze Nacht durchgearbeitet. Und ich glaub, da hat eine große Rolle gespielt, dass ich wusste: Die Tochter von Claudia Storz hütet jetzt meine Kinder.

Werner Rohner: Und hast Du, als Du sie gefragt hast, ob sie auf die Kinder aufpasst, gewusst, dass Du nicht in den Ausgang willst, sondern zum Schreiben?

Ruth Schweikert: Ja, genau. Oder sie hat das, glaube ich, sogar angeboten.

Werner Rohner: Und dann sind in dieser Zeit die Geschichten zusammengekommen für Erdnüsse totschlagen?

Ruth Schweikert: M-hm. Also einerseits kamen dann auch die kleinen Schritte: Das Kuratorium hat mir einen Förderbeitrag zugesprochen. Ich weiß noch, wie ich das eingereicht habe, in letzter Sekunde. Mit einem Drucker mit so Endlos-Loch-Papier. Alles über die Ränder. Und das war auch die Zeit, wo ich dann eben Germanistik studiert habe und zum Geldverdienen in so einem Sozialprojekt Kerzen gegossen. Das waren schon alles so Stoffe, die mich umgetrieben haben. Die Figur meiner Mutter. Oder diese Frage nach dem Erbe. Ich hatte ja eine deutsche Mutter. Was bedeutet das, wie transportiert sich diese Zeitgeschichte? Sie war für mein Empfinden da immer sehr naiv. Sie ist ja in Süddeutschland geboren, wirklich an der Grenze, ihr Vater war Lehrer, der dann strafversetzt wurde ins Elsass. So in dem Sinn ist sie ganz bestimmt nicht in einem Nazihaushalt groß geworden – sie hatte Jahrgang 30 – und ihre Mutter hatte verhindert, dass sie zu diesem BDM, Bund Deutscher Mädchen, musste. Aber trotzdem gab es das, das Nachdenken darüber, was ist passiert, wie konnte das passieren, und das hat, in meiner Wahrnehmung, bei ihr nicht stattgefunden, weil sie dann 45 aus der Schule musste, die Eltern hatten wenig Geld, sie hatte einen kleinen Bruder und der Vater war schwer zuckerkrank, sie konnte keine Ausbildung machen und hat dann als Grenzgängerin in Badisch Rheinfelden als Zimmermädchen gearbeitet. Und hat sich dann irgendwann eine Abendschule geleistet und wurde Sekretärin in einer Baustoff AG. Jedenfalls, sie hat schon erzählt, man habe genau gewusst in der Schule, wer ein Nazi war, aber sie hat dann immer gesagt, sie sei ja jetzt Schweizerin – und ich spürte immer, dass darunter aber auch noch andere Geschichten lauern. Ich hab erst später erfahren, dass meine Eltern nicht verheiratet waren bei meiner Geburt. Dass ich geboren wurde als Ruth Schneider. Irgendetwas davon trägt man wohl mit – all diese Geschichten, die eben nicht erzählt werden. Ich wurde ja auch geboren als Deutsche in Lörrach – und wusste das aber nicht. Ich hab das mal so formuliert: Ich denke, ich wurde vielleicht auch deswegen Schriftstellerin, weil es immer einen Gap gab zwischen dem, was man erzählt hat in der Familie, und dem, was ich wahrgenommen habe. Und das passte nicht zusammen. Also musst du anfangen dir Dinge auszudenken. Und du merkst, es gibt diesen Raum des Verschwiegenen. Ich denke, das war schon ein großer Impuls: Kann man das nicht erzählen, oder kann man das doch erzählen? Und was würde das bedeuten?

Werner Rohner: Aber gibt es das nicht bei allen? Muss da nicht noch was dazugekommen sein?

Ruth Schweikert: Nur, in meiner Familie gab es halt wirklich noch diese zweite Frau, die Frau, die mein Vater auch geliebt hat. Es gab die beiden Halbschwestern, davon eine siebzehn Tage älter als ich, von denen ich nichts gewusst habe. Und vor allem wurde von diesen Erwachsenen auch beschlossen: Darüber wird nicht gesprochen. Und ich stell mir vor, das hat auch was mit der Zeit zu tun. Mit sozialen Verhältnissen, zum Beispiel, dass Ehen auch auf ökonomischen Abhängigkeiten basierten. Und das hat natürlich auch ganz andere Formen von Beziehungen ergeben. Ehen wurden anders geführt, und auch anders aufrechterhalten.

Werner Rohner: Wie denkst Du denn jetzt an den Erzählband zurück?

Ruth Schweikert: Also, so würd ich es formulieren: Typisches Erstlingswerk. Mit einer bestimmten Radikalität, auch Verstörung vielleicht; mit einer Dringlichkeit bin ich da Themen und Motiven nachgegangen. Das hatte viel zu tun mit weiblichen Selbstentwürfen. Die Frage nach der intellektuellen Power auch. Der Möglichkeit auch, autonom zu leben, bzw. auch der Schwierigkeit. Es sind Figuren, die alle ein bisschen schräg sind, aber auch stark. Eine starke sprachliche Setzung, so sehe ich das, auch einige Neologismen. Etwas Dezidiertes, vielleicht Krudes. Aber ich schreibe nicht mehr so. Ich hatte auch immer noch zu Beginn diese Aversion, oder diese Vorsicht gegenüber bestimmten Wörtern der Selbstverständlichkeit. Dass Sprache etwas abbildet. Redewendungen, oder überhaupt, wenn jetzt jemand sagt: Er liebt ihn. Oder der ist schön. Da immer ein dezidiertes Hin-, bzw. Ausstellen von Redewendungen. Und nicht ein Gebrauch machen davon.

Werner Rohner: Das Buch scheint Dir noch sehr präsent?

Ruth Schweikert: Ja, aber zwischendurch hab ich es auch wieder hervorgenommen für eine Lesung oder so. Oder wenn es für eine Taschenbuchausgabe neu rauskam, hab ich reingelesen.

Werner Rohner: Und wie unterscheidet sich die Erinnerung an die verschiedenen Bücher?

Ruth Schweikert: Die Bewegung ist ganz sicher hin zu einerseits einer größeren Hingabe, oder Selbstverständlichkeit des Erzählens. Wobei ich immer noch sehr aufmerksam bin, wie erzähl ich etwas. Für mich ist Sprache nie Mittel zum Zweck – was auch immer das bedeuten mag oder könnte, was ich sowieso nicht weiß. Aber schon eine Art von Vertrauen in die Kraft, in das, was beim Schreiben oder Lesen immer auch problematisch bleibt: die Verführungskraft der Sprache. Sozusagen ein spielerisches Verhältnis zu der Suggestivkraft von Sprache. Ein Vertrauen, dem mehr zu folgen auch. Nicht mehr so stark die Sprache auszustellen. Vielleicht eine gewisse Leichtigkeit auch. Mut zum Ausufern.

Werner Rohner: Das ist ja jetzt so die Entwicklung. Aber die Erinnerung, wie hat sich das emotional verändert? Auch in der Wichtigkeit oder der Nähe? Und wie ändert sich das, vielleicht auch zu den einzelnen Büchern? Oder sind die schon weit weg?

Ruth Schweikert: Nein, das nicht. Und trotzdem erschrecke ich dann, wenn ich eher zufällig darauf stoße, weil ich aus verschiedenen Büchern lesen soll, dann denk ich: Ich schreib doch immer das gleiche Buch. Dabei hab ich bei jedem Buch das Gefühl, ich beginne wieder bei Null. Und das möchte ich auch so halten. Ich möchte nicht wissen, was für eine Form es hat, ich möchte das eigentlich immer erst herausfinden.

Werner Rohner: Und worin besteht die Ähnlichkeit?

Ruth Schweikert: Wahrscheinlich hat es stark mit den formalen Elementen zu tun. Mit dem Rhythmus, mit den Sprachbildern, aber natürlich auch mit Figuren, mit Motiven. Lange Zeit war sicher diese Frage nach dem Erben, der Tradierung, der Überlieferung von Erbe, auch vom nationalsozialistischen Erbe etwas, was mich sehr umgetrieben hat. Es sind teilweise andere Fragen, aber der Blick, zum Beispiel fürs Detail, das nicht chronologische Erzählen. Oder ich hab dann irgendwann festgestellt, drei Bücher spielen eigentlich an einem Tag. Das wollte ich eigentlich nicht – wenn natürlich auch mit all diesen Auswüchsen in die Vergangenheit und die Zukunft. Dieser Unwille, dass man mal ins Bett geht, und dann ist wieder ein Tag – ja, ich beginne meist mit einer Szene, mit einer Urszene, oder mit etwas, wo ich irgendetwas suche, eine Art Recherche, und dann stellt sich sofort die Frage: Ja, wie kommt es denn dazu?

Die Vorstellung will dann immer ergründen: Jetzt sind sie alle da – aber warum sind sie alle da? Wie ist es gekommen? Und das führt natürlich zu solchen Texten, die in die Vergangenheit gehen und von da aus etwas nachgehen. Nicht eben so sehr vorwärtsdrängen. Es kann dann schon sein, dass es weiter geht. Aber ich merke, das ist es nie, was mein Schreiben antreibt. Sondern es sind sicher die Figuren einerseits, aber vor allem die Suche nach etwas. Fragen. Und diesen Fragen geh ich irgendwie nach. Mit Hilfe von Figuren, mit Hilfe von Sprache.

Werner Rohner: Das mit dem Tag – ist das auch, weil Du es irgendwo festmachen musst?

Ruth Schweikert: Sicher.

Werner Rohner: Kannst Du Dir vorstellen, dass das einmal nicht mehr sein muss?

Ruth Schweikert: Kann sein. Aber mich interessiert halt schon auch immer wieder dieses phänomenologische, dokumentarische. Ich kann nicht eine Figur losgelöst von der Zeit oder vom Ort betrachten. Das scheint mir unabdingbar.

Werner Rohner: Aber Du müsstest dafür ja nicht immer an diesen einen Tag zurückkommen?

Ruth Schweikert: Aber es scheint mir trotzdem unabdingbar, dass Figuren in einer bestimmten Zeit leben und ein bestimmtes Lebensalter haben. Nicht natürlich auf den letzten Tag genau definiert. Aber ich weiß nicht, ob ich davon loskomme.

Werner Rohner: Und der Ton, der geht ja schon auch durch, wenn auch mit verschiedenem Fokus. Hast Du schon mal versucht, den absichtlich zu brechen, oder zu verändern?

Ruth Schweikert: Ich würd schon sagen, bei meinem letzten Buch, dass es da quasi auch andere Tonalitäten gibt. Quasi gebrochenere, offenere, auch durch die Form, dass das Fragmentarische deutlicher hervortritt, dass bestimmte Sprachsgebrauchsweisen eben per Mail sehr ad hoc als Äußerungen miteinfließen. Dass mich da gerade auch die Spannung interessiert hat, zwischen sehr geformten, eben in Form gebrachten Texten, mit all dem Rhythmus, der die Sprache dann letztlich wieder trägt. Aber doch auch Kruderes drin steckt. Vielleicht ist das auch eine Befreiung von gewissen Vorstellungen oder von gewissen Arbeitsweisen.

Werner Rohner: Ich hab das Gefühl, das betrifft vor allem das Formale. Aber die Satzmelodie, unterscheidet sich die auch?

Ruth Schweikert: Jein. Also zumindest gibt es Ansätze dazu.

Werner Rohner: Und die sind, weil Du es versuchen wolltest? Oder haben die sich einfach ergeben?

Ruth Schweikert: Doch, es gab auch dieses Bedürfnis nach einer Art von mehr Brüchigkeit in der Sprache. Oder ungestaltet. Oder ungestalteter. Sprache doch mehr als Mittel. Dass das Sprachliche nicht so sehr im Zentrum steht. Zum Teil.

Werner Rohner: Und hast Du ein Gefühl, wo das hinführt? Beziehungsweise, wo möchtest Du, dass es hinführt?

Ruth Schweikert: Ich hab ja jetzt das erste Mal in diesem Buch „Tage wie Hunde“ über ein ganzes Buch hinweg mit einer Ich-Figur gearbeitet. Natürlich war es hier quasi keine Figur und doch eine Figur. Weil dieses Ich sehr nahe an meinem Ruth Schweikert-Ich angesiedelt ist. Und wenn ich das so machen werde, wie es mir jetzt vorschwebt, werde ich jetzt zum ersten Mal ein Buch mit verschiedenen Ich-Erzähler∗innen schreiben. Was natürlich sofort die Frage aufwirft: Ja, von wo aus sprechen die? Und wie sehr unterscheidet sich ihre Sprache? Aber es ist ja auch immer eine Fiktion, insofern kann ich mir auch vorstellen, dass die jetzt nicht eine so ganz unterschiedliche Sprache sprechen. Aber es ist zumindest eine Frage. Und ich möchte damit natürlich auch arbeiten. Also, ich arbeite damit.

(…)

Werner Rohner: Und würdest Du gern mehr von diesen Zeiten haben? Oder findest Du, das bedingt sich alles so, und der Rhythmus muss zwar erkämpft werden, aber es passt?

Ruth Schweikert: Schwierige Frage. Es gibt schon diese Stimme in mir, ich würd mir das wünschen. Und dann kann ich aber auch nur feststellen, dass ich es irgendwie nicht mache. Das sind ja auch Lebensentscheidungen. Ich hab mich ja für eine Familie entschieden. Und es gibt auch einfach diese Seite, dass ich es liebe: Ich mag es Projekte zu haben. Ich mag das, mit Studierenden etwas zu machen. Irgendwie im JULL etwas zu tun. Ich mag es mit Menschen zu tun zu haben. Ich mag es kurzfristige Aktionen zu planen. Das scheint mir einfach auch zu entsprechen. Ich mag es auch auf vielen Hochzeiten zu tanzen. Aber wenn ich dann in einer Situation bin, wo ich wirklich angekommen bin in einem Text, und es gibt diesen Raum, und ich kann da für mich – ich sag jetzt mal so – vor mich hinwursteln. Dann ist es schon toll.

Werner Rohner: Und was löst dann dieses Schreiben für ein Gefühl in Dir aus?

Ruth Schweikert: Das ist schon das Tollste. Aber es braucht eben einiges, bis man dahin kommt. Ich glaub, Jelinek hat mal gesagt: Das Schreiben, das ist eigentlich vermessen, das dann für wichtig zu halten. Da geht es dann um etwas und so. Und dann guckst Du Dir die Welt an und denkst: Worum soll’s da jetzt bitte gehen, im Schreiben? Man streicht ein Und, und setzt es wieder rein. Damit irgendwie der Satzfluss stimmt. Meine Güte, oder?! Was sind das für Emotionen, was sind das für Beschäftigungen – und trotzdem ist das der Sinn unserer Arbeit.

Werner Rohner: Aber mit der Frage hast Du schon begonnen.

Ruth Schweikert: Genau. Wozu, wozu? Und ich denke auch, das ist mit ein Grund, weshalb ich wenig schreibe. Es muss schon – aber das kennen wahrscheinlich viele: Eine Idee ist nichts, oder? Und ich geh ja jetzt nicht mit dem Notizbuch durch die Gegend. Es braucht relativ viel, bis ich etwas wirklich nachgehe.

Werner Rohner: Engagement! Was ist das, was bedeutet das für Dich, was machst Du?

Ruth Schweikert: Ich habe immer Adolf Muschg quasi im Ohr, wenn ich dieses Wort höre, und tatsächlich bedeutet das ja: En gage sein. Das heißt letztlich auch von jemandem bezahlt werden.

Werner Rohner: Lobbying?

Ruth Schweikert: Genau. Insofern. Aber es ist ein zwiespältiges Wort. Ich würde jetzt mal sagen, dass ich alles, was ich tue, engagiert tue. Jetzt eben nicht in diesem Wortsinn, sondern mit Leib und Seele – um diese Begriffe hier doch auch zu bringen. Weil das meine Wesensart trifft. Weil ich mich gerne in das hineinbegebe, was ich tue. Insofern hat es mehr mit einer Existenzart zu tun.

Ja, und wofür engagiere ich mich? Ich lasse mich leicht begeistern, entflammen, für etwas Neues interessieren. Ich hab immer noch diesen Hunger noch, Dinge zu wissen. Menschen kennen zu lernen. Gestern war ich in Bern. Alliance F. Die letztes Jahr sehr viel in Bewegung gebracht hat. Helvetia ruft. Die auch mit dazu beigetragen hat, dass deutlich mehr Parlamentarierinnen seit ein paar Tagen im Bundeshaus ein und ausgehen. Und da war eine junge Frau, 30, 31, die jetzt Hauptmann der Armee ist. Ich hab dann rausgefunden, dass sie die Tochter einer Jugendfreundin ist. Ich fand das so inspirierend, begeisternd, wie sie geredet hat. Sie wurde interviewt von Patricia Laeri über ihren Werdegang. Sie hat eine ziemlich verrückte Geschichte. Flog aus dem Gymnasium, hat dann die eidgenössische Matura nachgeholt. Aber vorher war sie in der RS. Und die Eltern bezeichnet sie als Hippies.

Also und einfach immer wieder zu sehen: Wir alle haben eine Stimme. Man kann sich einbringen. Ob man das schreibend tut. Ob man das tut, indem es so etwas gibt wie diese Diskussionsplattform über Texte – wie ich sie ja mitgetragen hab. Ich würde meine Lehrtätigkeit schon auch als Engagement bezeichnen, obwohl es natürlich auch ein Brotjob ist. Aber das gut zu machen, das engagiert zu machen – also wenn, dann mach ich das mit voller Präsenz. Und wenn ich mir jetzt überlege, diese Kolumne zu schreiben, dann seh ich das erstmal als ein Angebot, auch etwas zu bewirken, auch etwas zur Sprache zu bringen für einen größeren Leserkreis. Es soll thematisch offen sein. Und das wäre es mir eigentlich auch schon wert, die Arbeit am Roman dadurch, nicht hintenanzustellen, aber immer wieder zu unterbrechen.

Und dann gibt es auch viele Anfänge, die dann wieder verebbt sind. Ich hab zum Beispiel mal kandidiert für den Nationalrat. Aber dann kam die Krankheit. Kunst und Politik, ist ein Forum, in dem ich aktiv war. Das hat sich auch wieder ein bisschen verloren. Aber auch das sind natürlich so Erfahrungen, es braucht auch immer wieder so einen Anfangsimpuls. Fällt mir grad Hannah Arendt ein, die darauf bestanden hat: Wir können immer wieder anfangen. Das würde ich schon wahnsinnig gerne beibehalten. Im Idealfall bis zum Lebensende. Das ist aber auch eine Schwierigkeit im Laufe des Lebens. Dieses Resignieren. Re-signare heißt ja auch eigentlich auch nur die Zeichen neu setzen. Es ist eigentlich nicht per se mit dem verbunden, was wir unter resignieren versteht: Jemand der aufgibt, der nicht mehr dasselbe Feuer hat.

Werner Rohner: Ich hab jetzt das Gefühl, dass Du viel erzählt hast, was Engagement für Dich bedeutet und wie Du es angehst – aber gibt es auch eine inhaltliche Verbindung zwischen diesen Dingen, für die Du Dich einsetzt, und bei den Neubeginnen? Oder wo Du sagst, dahinter steht auch immer das und das?

Ruth Schweikert: Letztlich: Wie leben wir? Was heißt es, hier und heut zu leben, was bedeutet es diese Gesellschaft mitzugestalten? Durch eben verschiedene Aktivitäten. Durchs Bücher schreiben, aber eben auch bestimmte Formen, die Stimme zu erheben. Diese Gesellschaft, da wo ich lebe, dieses Umfeld, diese Menschen – das mitzugestalten, das wäre sicher etwas Inhaltliches. Und natürlich wäre mit dieser Form der Gestaltung etwas gemeint, das diese Gesellschaft fördern will. Den Austausch. Oder den Zusammenhalt, aber nicht in einer Art der Einigkeit, sondern der Pluralität, der Vielstimmigkeit. Und meinetwegen der Ermutigung an andere, das auch zu tun, sich auch zu positionieren, ihre Stimme auch zu erheben. Also die Mitteilung, das miteinander zu teilen, die eigenen Erfahrungen, die eigenen Gedanken, und auch zu hören, wahrzunehmen. Was sind die Mitteilungen der anderen? Und das auf ganz verschiedene Art und Weise zu tun. Und damit sicher die Vorstellung immer wieder dazu beizutragen, dass wir eine Gesellschaft bleiben, in der wir miteinander sprechen und miteinander Dinge tun. Indem wir auch handeln und sich jeder als mitgestaltend erfahren kann.

Werner Rohner: Und wie kommst Du zu den verschiedenen Engagements? Gehst Du hin und denkst, das find ich toll, und fragst: Kann ich was tun? Oder ist es mehr, dass es auf Dich zukommt?

Ruth Schweikert: Es gibt beides. Tatsächlich ist es natürlich so, wenn man eine bestimmte Bekanntheit hat, dass auch vieles an einen herangetragen wird. Aber es ist schon so, dass ich auch einiges anrege. Oder sehr viele Anregungen aufnehme und selber auch welche gebe. Aber eher im Austausch. Manchmal ist es ja auch so ein Moment, wo mehrere beteiligt sind und zusammen initiieren. Aber das Ursprüngliche ist schon das Schreiben. Und da erteilt einem ja auch niemand einen Auftrag. Und darauf wiederum reagieren Menschen.

(…)

Werner Rohner: Und bisschen konkreter zu Deiner Familie?

Ruth Schweikert: Also diese fünf Kinder sind ja in sehr unterschiedlichen Lebensmomenten entstanden und damit auch zu mir gekommen, in meine Familie. Als ich zum ersten Mal schwanger war, war ich zwanzig Jahre alt. Das heißt, ich stand an der Schwelle zu, damals nannte man es: Dir steht jetzt die Welt offen. Mit Matur, man kann wo hingehen. Und ich habe mich oft gefragt, was war das für eine Dynamik? Ich glaube, das hat zu tun mit meiner Herkunftsfamilie – ich meine, lustigerweise, ich habe fünf Kinder, mein Vater hatte fünf Kinder, mein Bruder hat fünf leibliche Kinder. Und jeweils zwei Kinder mit der einen Partnerin und drei mit der anderen. Und mich hat ja immer das Phänomenologische auch interessiert, ohne dem eine zu große Bedeutung zu geben. Aber da manifestiert sich etwas. Was ich dem dann für eine Bedeutung beimesse, weiß ich nicht. Aber das einfach mal wahrzunehmen. Und das sind ja dann doch immer Zäsuren im Leben. Es sind Erinnerungspunkte. Sie erzählen ein Stück Sozialgeschichte in der Schweiz. Wenn ich jetzt denke, als Raphael zur Welt kam, 1985, gab es Kinderkrippen nur in größeren Städten. Das waren wirklich sehr wenige Kinder, die in diesen Kinderkrippen betreut wurden. Im Normalfall haben das die Eltern übernommen, im Normalfall die Mutter – also im statistischen Normalfall, meine ich. Auch in dem, was mentalitätsgeschichtlich als Normalfall wahrgenommen wurde. Es gab eben diese Infrastrukturen kaum. Von einer Mutterschaftsversicherung schon gar nicht zu reden. Gesellschaftlich war das sehr deutlich, dass die Mütter sich um diese Kinder kümmern. Die Tagesstrukturen in den Schulen waren auch noch so: keine Blockzeiten, und so weiter.

Und für mich war das damals auch ein Zeithorizont. Also, wenn der mal erwachsen ist, dann bin ich ja über vierzig. Damals unvorstellbar. Und jetzt bin ich so viel älter. Und jetzt zu sehen, wie leben jetzt meine erwachsenen Söhne, die beide sehr verantwortungsvolle Väter sind, sehr engagierte Väter. Das ist ein ungeheurer Reichtum einfach. Zu sehen, wie wird ein Mensch ein Mensch. Es kommt auch vieles zurück. Es kommen auch Dinge zurück, die nicht nur angenehm sind: Du wirst ja dann auch gespiegelt: Wie warst Du, wie habe ich dich wahrgenommen? Wie warst Du präsent oder nicht präsent, wie warst Du mit Dir selber beschäftigt Aber auch, wie finden die ihren Weg? Das ist etwas extrem Bereicherndes, extrem Interessantes, das über die Jahre hindurch zu sehen und zu reflektieren auch. Das sind lebenslange Beziehungen. Ich schöpfe daraus sehr, sehr viel. Sehr viel auch an Erinnerungen. Wenn ich denke, David wurde geboren 1989, das Jahr, als die Mauer fiel. Raphael, erinnere ich mich, da stand ich aufm Markt am Helvetiaplatz, als Tschernobyl passierte. Das sind Erinnerungen, die dann so an Zeitgeschichte gebunden sind und sich mit der persönlichen Geschichte verknüpfen. Nochmals anders als nur mit der eigenen, sondern auch mit derjenigen der Kinder. Zu sehen, wie jetzt heute junge Männer im Leben stehen und was ihre Fragen sind, ihre Schwierigkeiten auch. Das ist natürlich ein ungeheures Reservoir an Geschichte. Und nebst dem, dass es eine permanente Herausforderung ist und ein Eingebundensein auch in diese Aufgabe, in diese Verpflichtungen, das gibt dem Leben natürlich eine Struktur. Und das habe ich sicher sehr gesucht. Und ich denke schon, es gab dieses Moment der Angst vor der Freiheit, die ich mit zwanzig eigentlich auch gehabt hätte. Ich seh das schon auch, wie soll ich sagen, ich würde jetzt nicht sagen: Kinderhaben für die Erfüllung eines Lebenstraums. Sondern es war eine permanente Spannung auch. Es war eine permanente Lust, Freude, Herausforderung, Stress, Ärger, Sorgen. Die ganze Bandbreite an Gedanken und Emotionen und Anbindungen. Und mit Kindern knüpft man natürlich auch Kontakte mit anderen Eltern. Man ist eingebunden in schulische Aktivitäten. Man erfährt permanent so vieles, wie die Zeit – über die Verfasstheit der Jetztzeit jeweils. Und das bemisst sich nochmals ganz anders, als wenn ich das „nur“ aus anderen Arbeitszusammenhängen kennen würde.

Werner Rohner: Und was bedeutet es für Dich, dass Dein nächstes, oder selbstverständliches Umfeld alles Männer sind, fünf Söhne und ihre zwei Väter?

Ruth Schweikert: Ja, das hab ich mir ja so nicht ausgesucht. Man kann sich auch schwer etwas vorstellen, was es nicht gibt – also Literatur besteht darin, dass man sich Dinge vorstellt, die so nicht sind, aber um deren Existenz durchaus weiß. Aber erstens bringen diese Männer ja irgendwann auch andere Frauen mit, ihre Freundinnen, Partnerinnen. Das sind natürlich weitere Menschen, die dazu kommen. Eine Enkelin. Etwas vom Faszinierendsten find ich auch, wie sich die Öffnung der Gesellschaft, oder die liberalere Gesellschaftsordnung, wie sich das in der eigenen Familie auch widerspiegelt. Ich hab einen Sohn, der hat zwei Söhne mit zwei Frauen. Er ist sozialer und biologischer Vater von zwei Söhnen, die bei ihren Müttern aufwachsen, für die mein Sohn aber auch eine soziale Vaterrolle übernimmt. Das heißt, er hütet einmal die Woche diesen dreieinhalbjährigen Jungen. Und bald auch den, der im Juli dieses Jahres zur Welt gekommen ist. Und zugleich lebt er in einer Partnerschaft mit einer Frau, und die haben auch einen gemeinsamen Sohn, der zehn Jahre alt ist. Wie organisiert man so etwas? Also ohne Zutun bin ich an vorderster Front von gesellschaftlichen Entwicklungen. Eben, mein zweitgeborener Sohn ist verheiratet mit einer Frau, die als Dreizehnjährige aus Kolumbien in die Schweiz gekommen ist. Und so kriege ich wieder was mit, einerseits ihre Lebensrealität und andererseits die ihrer Mutter, die dann mit einem Schweizer verheiratet ist. Nochmals zwei Kinder hatte mit ihm. Aber auch ihrer Tante, die bis heute quasi „illegal“ in der Schweiz lebt, deren Sohn wiederum in Kolumbien bei der Großmutter aufwächst und dort einfach als Putzpersonal arbeitet. Und natürlich weiß man das alles, dass es das gibt. Aber wenn diese Menschen so nah sind, und sich all diese gesellschaftlichen Realitäten in der eigenen und erweiterten Familie abbilden, das ist etwas ungeheuer Interessantes einfach.

Werner Rohner: Und lesen Deine Söhne Deine Bücher?

Ruth Schweikert: Teils, teils. Ich hake da auch nicht nach. Ich hab ja einen Sohn, für den es klar ist, dass er Schriftsteller ist. Der hat schon Sachen gelesen, aber sicher nicht alles. Aber so, wie ich von meinen Studenten und Studentinnen niemals erwarten würde, dass sie was von mir gelesen haben. Das kann abschrecken, das kann zu Konflikten führen. Ich finde, es gibt so viele gute Gründe die Bücher der eigenen Mutter nicht zu lesen, oder sie erst zu einem bestimmten Zeitpunkt zu lesen.

Werner Rohner: Ich meine nicht, dass sie sie lesen sollen. Aber das sie es vielleicht tun und dann auch ein Feedback kommen könnte, das eine ganz andere Bedeutung hätte.

Ruth Schweikert: Ist auch schon vorgekommen. Aber natürlich auch, was meine Brüder angeht. Meine Halbschwestern.

Werner Rohner: Aber trotzdem stelle ich es mir bei den Kindern nochmals ganz anders vor.

Ruth Schweikert: Ganz bestimmt. Und das ist tatsächlich etwas, das man weniger im Blick hat. Im Moment des Schreibens, wenn die Kinder klein sind, denkst Du nicht daran, dass sie in zehn, fünfzehn Jahren dieses Buch lesen werden. Das ist wie nicht präsent. Und Du kannst es ja auch nicht voraussehen, wie werden die das mal finden. Weil ihre Persönlichkeit noch gar nicht so ausgebildet scheint. Während die mögliche Reaktion der Menschen in Deinem Umfeld, die ist viel eher vorhersehbar, oder abschätzbar oder auch verhandelbar. Du kannst ja mit einem Lebenspartner auch über Änderungen verhandeln, weil es immer sein kann – aus welchen Gründen auch immer – das ihm etwas zu nahe treten kann. Aber das kannst du mit einem Kind nicht.

Werner Rohner: Und hat sich dieses Bewusstsein jetzt dadurch verändert?

Ruth Schweikert: Ja, aber ich seh das in dem Sinn lockerer, ich kann es nicht voraussehen, ich kann es nicht ändern. Ich meine, die Eltern sucht man sich nicht aus. Das ist nun mal so. Und das kann mich natürlich treffen. Aber ich kann doch nicht, weil irgendwer dann kommen könnte und mir irgendwas vorwerfen könnte, deswegen nicht meine Bücher schreiben. Das geht nicht. Markus Lüpertz hat irgendwo geschrieben: Ein Philosoph stellt die Welt in Frage, ein Künstler sich selbst. Und das heißt ja auch, sich selbst als Beispiel zu nehmen, in welcher transformierten Form auch immer. Man kann sich ins andere Geschlecht, in andere Alter erfinden, aber tatsächlich steht man immer auch da. Und ich würde schon sagen, ich suche immer auch die Präsenz eines Autors. Nicht eine autobiographische, aber eine Präsenz, die Anwesenheit. Jetzt als Leserin. Und ich würde auch sagen, ich bin in meinen Büchern anwesend. Und ein Kunstwerk sollt natürlich auch angreifbar sein. In dem Moment, wo es aus welchen Gründen auch immer sich selber als unangreifbar konstruiert – was ja gar nicht geht – aber es gibt natürlich eine Art von Ästhetisierung, gerade in der abstrakten bildenden Kunst, wo etwas – was auch nicht von allen so empfunden wird – wo etwas einfach schön ist, vielleicht noch nach den Maßstäben des goldenen Schnittes, usw., und nach allen Kriterien, kannst du eigentlich nur dastehen und sagen: Schön.

Aber ein Kunstwerk, das versucht sich möglichst unangreifbar zu machen, dem fehlt etwas.

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